Die Ukraine im Schatten der deutschen Erinnerungskultur

Seit vielen Jahren fehlen in Berlin Gedenkstätten, die den über 10 Millionen ukrainischen Opfern des Zweiten Weltkriegs gewidmet wären. Besonders seit der großflächigen russischen Invasion der Ukraine ist dieses Fehlen schmerzhaft spürbar. Leider ist die Ukraine als unmittelbares Opfer des nationalsozialistischen Angriffskriegs und Terrors bis heute auf der historischen Landkarte Berlins nicht verzeichnet.

Die Vertreter*innen der ukrainischen Gemeinschaft in Berlin müssen auch während des russischen Angriffs auf ihr Heimatland gezwungenermaßen ihre Landsleute und Vorfahren an Gedenkstätten ehren, die ausschließlich der Sowjetunion gewidmet sind. Dies bedeutet, dass sie an einem Ort gedenken müssen, der für sie ein erschütterndes Symbol von Unterdrückung, Diktatur und Leid darstellt. Die Gedenkstätte steht somit als tragische Fortsetzung des begangenen Unrechts am ukrainischen Volk, das noch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die sowjetische Besatzung hinausreichte.

Aus geschichtspolitischer Sicht ist es besonders schwerwiegend, dass die vielen sowjetischen Gedenkstätten für die Opfer des Krieges, sowohl unter der Armee als auch unter der Zivilbevölkerung, in der öffentlichen Wahrnehmung Deutschlands fast ausschließlich mit russland in Verbindung gebracht werden. Diese Assoziation ist sogar explizit im deutschen Recht verankert: das Gesetz zu dem deutsch-russischen Abkommen über die Kriegsgräberfürsorge vom 16. Dezember 1992 besagt explizit, dass alle sowjetischen Gedenkstätten als exklusives Eigentum russlands angesehen werden und Deutschland verpflichtet ist, sie zu pflegen und zu schützen.

Das außergewöhnliche Recht, das russland in Bezug auf die Kriegsgräberpflege in Deutschland eingeräumt wird, beruht auf der historischen Verantwortung und Schuld Deutschlands. Allerdings gibt es in Bezug auf Länder wie die Ukraine und andere, die bis 1991 unter sowjetischer Herrschaft standen und stärker von den Kämpfen, dem Unrecht und der Besatzung durch Nazideutschland betroffen waren, keine vergleichbare Anerkennung in der deutschen Erinnerungskultur.

Eine Umfrage der Universität Bielefeld zwischen 2018 und 2022 zeigt eindrucksvoll, wie die Deutschen die Ukraine und andere sowjetische Nachfolgestaaten in ihrer Erinnerungskultur meist ignorieren. Die Befragten wurden gebeten, drei europäische Länder neben Deutschland zu nennen, die sie am stärksten mit dem Zweiten Weltkrieg verbinden. Lediglich ein Prozent der Befragten verband dabei die Ukraine mit den Gräueln des Zweiten Weltkriegs, während es bei Belarus, Litauen und Lettland sogar nur 0,1 bzw. 0,2 Prozent waren. Im Gegensatz dazu brachten ganze 36,3 Prozent russland mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung. Obwohl auch die Sowjetunion sachlich korrekt von 8.1 Prozent der Befragten genannt wurde, scheint nur in Bezug auf russland ein historischer Zusammenhang mit den heutigen Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR hergestellt zu werden. Dies zeigt, dass die Erinnerungskultur in Deutschland noch immer stark von der Wahrnehmung russlands geprägt ist und andere Länder, die ebenfalls schwer unter dem Krieg gelitten haben, oft vernachlässigt werden.

Als Teil der ukrainischen Gemeinschaft in Deutschland wünschen wir uns ein dringendes Überdenken der bisherigen Haltung Deutschlands in Bezug auf die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und die Sowjetunion. Wir bitten die deutsche Regierung inständig, auch eine Ehrung der ukrainischen Opfer des Krieges und des Terrors des Nationalsozialismus hier in Deutschland zu ermöglichen, insbesondere in Berlin.

Es ist von großer Bedeutung zu verstehen, dass die Ukraine während des Zweiten Weltkriegs als Ganzes von den Kämpfen und der Besatzung durch die Nazis betroffen war und ihr Territorium völlig verwüstet und zerstört wurde. Im Gegensatz dazu betraf die deutsche Aggression nur etwa drei Prozent des heutigen russischen Gebiets. Neue Schätzungen von Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass die Zahl der aus der Ukraine stammenden militärischen Opfer während dieser Zeit bei schockierenden 4,1 Millionen lag. Darüber hinaus starben mehr als 5,7 Millionen Zivilist*innen und Kriegsgefangene in den von Nazideutschland besetzten Gebieten der Ukraine.

“Dass die allermeisten ermordeten Jüdinnen und Juden nicht aus dem Deutschen Reich kamen, sondern aus den Schtetl und Städten auf dem Gebiet der weißrussischen [belarusischen] und ukrainischen Sowjetrepubliken und des Baltikums, findet ähnlich langsam Eingang in den Erinnerungskanon wie der Umstand, dass über 1,5 Millionen Jüdinnen und Juden vor Ort erschossen wurden, über eine Million von ihnen in der heutigen Ukraine.” – Johannes Spohr

Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass während des Zweiten Weltkriegs auch 2,4 Millionen Ukrainer*innen aus ihrer Heimat deportiert wurden, von denen zwischen 400.000 und 450.000 dabei starben. Ein beträchtlicher Teil dieser deportierten Zwangsarbeiter*innen wurde nach Berlin gebracht und musste in Arbeitslagern arbeiten, in deren Nähe wir am 8. Mai einen Gedenkmarsch organisieren.

Angesichts der Tatsache, dass es bisher für uns keinen geeigneten Ort des Trauerns und Gedenkens gibt, werden wir selbst einen Ort schaffen. Wir hoffen jedoch, dass eine Wende in der Erinnerungskultur dazu beitragen wird, dass in Zukunft keine ukrainischen Flaggen mehr von der Berliner Polizei am 08. Und 09. Mai verboten werden und eine Gedenkstätte für die 10 Millionen ukrainischen Opfer des Zweiten Weltkrieges errichtet wird. Wir möchten betonen, dass unser Anliegen nicht darin besteht, die historische Verantwortung Deutschlands gegenüber anderen betroffenen Opfergruppen zu relativieren oder zu leugnen, sondern lediglich darum, dass auch das Leiden und die Opfer der Ukraine angemessen gewürdigt werden.

Um den Ukrainischen Kriegsopfern des Zweiten Weltkriegs zu gedenken, veranstalten wir am Montag, den 08. Mai, zwischen 18:00-20:00 Uhr einen Gedenkmarsch, der an der Schönhauser Allee 36 in Berlin beginnt. Auf dem Gelände der heutigen Kulturbrauerei wurden ab 1941 bis Kriegsende Zwangsarbeiter*innen in der Schultheiss-Brauerei eingesetzt. Wir laden Sie gerne zu unserer Veranstaltung ein.

Bild: Chris Knickerbocker