Ein offener Brief an die Geschäftsführung und Leitung des HAU Hebbel am Ufer, betreffend die Aufführungsreihe „Museum of Uncounted Voices“ von Marina Davydova (2.–11. November 2025)

Wir, die in Berlin ansässige NGO Vitsche e. V., deren Mission es ist, sicher Propaganda entgegenzuwirken und ukrainische Stimmen in Europa zu stärken, möchten unsere große Sorge über die Rückkehr der Aufführungen „Museum of Uncounted Voices“ von Marina Davydova am HAU Hebbel am Ufer äußern, die für den 2.–11. November 2025 angekündigt sind.

Als Organisation von ukrainischen Verbündeten, die in den kulturellen und politischen Sphären Berlins leben und arbeiten, bekennen wir uns zur Unterstützung der Kunstfreiheit und des offenen Diskurses. In diesem Zusammenhang schätzen wir das HAU als progressives Theater, das Künstler*innen, die ihre Projekte in ihren Herkunftsländern aufgrund politischer oder ökonomischer Repression nicht realisieren können, Räume eröffnet – und dies mit der nötigen Achtsamkeit, um sicherzustellen, dass niemand retraumatisiert oder entwertet wird. Ein solcher Ansatz ist entscheidend in einer Zeit, in der autoritäre Kräfte – auch im deutschen öffentlichen Raum – wieder an Sichtbarkeit und Einfluss gewinnen.

Gleichzeitig sind wir der Auffassung, dass kulturelle Institutionen eine ethische Verantwortung für die Narrative und die einzelnen Kunstwerke tragen, denen sie eine Bühne bieten – insbesondere in Zeiten gewaltsamer Konflikte wie des andauernden russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Marina Davydova, seit Langem eine Figur des russischen Theater-Establishments, inszeniert sich als liberale Exilantin, reproduziert jedoch die Logik, die russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine erst ermöglicht. Solchen Narrativen – zumal solchen, die aus den kulturellen Eliten russlands stammen – eine Bühne zu geben, reproduziert imperiale Deutungsmuster und verwässert die Unterscheidung zwischen Aggressor und Opfer, Kolonisator und Kolonisierten. Darüber hinaus bestärkt es sogar die absurde Rechtfertigung der russischen Invasion in die Ukraine.

In diesem Sinne sind wir der Meinung, dass das Stück „Museum of Uncounted Voices“ kein Akt einer „raffinierten Reassertion“ eines russischen Exzeptionalismus ist, der sich als Ironie und Selbstviktimisierung tarnt. Ohne angemessene Kontextualisierung wird eine solche Rahmung gefährlich, irreführend und unsensibel gegenüber den Bevölkerungsgruppen, die heute unmittelbar von der russischen Aggression betroffen sind.

Komplexität nicht zu behandeln, verstärkt Propaganda

Davydova gestaltet ihre Bühne als Pseudo-Museum der „russischen Größe“. Die eröffnende Episode verknüpft imperiale Ekstase mit gängigen Propagandabehauptungen aus russland; unter zahlreichen falsifizierten „Fakten“ wird etwa die Annexion ukrainischer Gebiete wie Cherson und Krim als „freiwilliger Anschluss“ bezeichnet. Solche Aussagen im öffentlichen Raum ignorieren heute, dass sie traumatisierend und triggernd wirken, wenn sie nicht sauber kontextualisiert sind. Davydova selbst bemerkte, dass Teile des Publikums auf solche Aussagen alarmiert reagierten und sie nicht als Satire, sondern als Bestätigung russischer Territorialansprüche verstanden: „Wenn der Schauspieler sagt: ‚Cherson, Sewastopol, das schöne Odessa – das sind unsere Städte‘, stand eine Frau – ich nehme an, sie ist Ukrainerin – auf und schrie, das sei furchtbar, so etwas dürfe man nicht sagen, und nahm es wörtlich.“ (Interview mit Radio Swoboda, 31. Mai 2023). Anstatt die dramaturgische Verantwortung für solche Fehllektüren anzuerkennen, weist Davydova diese Reaktionen als Missverständnis des Publikums zurück – mit der Implikation, Kritiker*innen fehle lediglich die Raffinesse, die Ironie zu begreifen. Diese Herablassung gegenüber dem Publikum – insbesondere gegenüber Menschen, deren Länder und Leben direkt betroffen sind – offenbart eine Hierarchie, in der Davydovas „riskante künstlerische Provokation“ als per se legitim gilt, während die gelebten Erfahrungen der direkt Betroffenen als irrational oder übermäßig emotional abgetan werden.

Aneignung kolonialisierter Stimmen

In den folgenden Szenen maßt sich die Regisseurin an, im Namen von fünf Nationen zu sprechen, die historisch unter russischer und sowjetischer Herrschaft litten – Ukraine, Belarus, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Sie erfindet fiktive Dialoge zwischen diesen Nationen, in denen sie sich darüber streiten, „wer mehr gelitten habe“, als seien ihre Geschichten von Gewalt, Genozid und Kolonisierung austauschbar. Davydova unterstreicht dies mit einer „Kurzoper“, in der alle Figuren singen: „Wir sind die Opfer, wir sind die Hauptopfer“ – und reduziert damit die antikolonialen Kämpfe dieser Nationen zu einer Karikatur eines Wettbewerbs um Opferstatus.

Die Inszenierung zeigt keine Anzeichen ernsthafter Recherche, Konsultation oder Einbindung der Communities, deren Geschichte sie sich anmaßt zu erzählen. Es beunruhigt uns, dass in einer antikolonialen Institution ein derart koloniales Vorgehen eine Bühne findet. Stattdessen werden die Perspektiven dieser Communities ausschließlich durch Davydovas eigenen Interpretationsrahmen gebrochen – geprägt von einer russisch geprägten Weltsicht. In dieser Struktur werden Identitäten, die von imperialer Unterwerfung gezeichnet sind, zu Stereotypen eingeebnet; ihre Erfahrungen werden zum Material eines Theaterkonzepts, statt Gegenstand sinnvoller Repräsentation zu sein. Das Ergebnis ist die Reproduktion einer vertrauten Hierarchie: Eine russisch kodierte Perspektive bleibt zentral, während die Erfahrungen und Geschichten ehemals dominierter Nationen einer anderswo konstruierten Erzählung untergeordnet werden.

Im politischen und dokumentarischen Theater erfordern Repräsentationspraktiken Verantwortung: Marginalisierte Stimmen zu „zentrieren“, ohne Zusammenarbeit, ohne Einverständnis oder ohne kontextuelle Genauigkeit, ist keine Neutralität, sondern eine Fortsetzung genau jener verallgemeinernden und identitätsauslöschenden Strukturen, die das Kunstwerk zu hinterfragen behauptet – im Falle russlands nicht selten gefolgt von militärischer Gewalt.

Wir ersuchen das HAU Hebbel am Ufer, die Konsequenzen einer Aufführung ohne sorgfältige Kontextualisierung eingehend zu prüfen. Bitte verzichten Sie auf eine Präsentation in der aktuellen Form und entwickeln Sie stattdessen einen kuratorischen Rahmen, der imperiale Narrative klar benennt und nicht reproduziert, die Perspektiven der unmittelbar Betroffenen einbezieht und eine informierte, verantwortungsvolle Repräsentation gewährleistet.

Wir schreiben diesen Brief nicht, um zum Schweigen zu bringen, sondern um Verantwortung einzufordern – um daran zu erinnern, dass Neutralität in Zeiten wachsender autoritärer Bedrohungen und eines brutalen Krieges eine Form der Komplizenschaft ist. Wir stehen für einen künstlerischen Dialog, der ethisch fundiert und historisch bewusst ist – nicht für die Normalisierung imperialer Traumata-Narrative oder die Reproduktion schädlicher Machtstrukturen auf der Bühne.

Wir laden das HAU ein, in einen offenen Austausch mit Vertreter*innen der betroffenen Communities in Berlin zu treten, um sicherzustellen, dass die Bühne ein Ort der Gerechtigkeit bleibt – nicht der Verzerrung.

Open Letter to HAU from Vitsche e.V. Marina Davydova.docx