Stellungnahme von Vitsche zur sogenannten „Antikriegsdemonstration“ am 17. November in Berlin
Am 17. November 2024 organisieren Julija Nawalnaja, Wladimir Kara-Mursa und Ilja Jaschin eine Demonstration in Berlin, die als „Antikriegsprotest“ beworben wird. Vitsche äußert jedoch tiefe Bedenken, sowohl hinsichtlich der unklaren Positionierung der Organisatoren als auch der grundsätzlichen Ausrichtung dieser Veranstaltung.
Unser Hauptkritikpunkt: Verantwortung nicht auf putin allein abwälzen
Die Organisatoren konzentrieren ihre Rhetorik darauf, wladimir putin als alleinigen Verantwortlichen für den russischen Angriffskrieg darzustellen. Diese Haltung ignoriert die tief verwurzelten Probleme innerhalb der russischen Gesellschaft und verfehlt den Kern eines demokratischen, oppositionellen Ansatzes. Wahre Verantwortung bedeutet, nicht nur eine Person, sondern die gesellschaftlichen Strukturen und kollektive Einstellungen zu hinterfragen, die diesen Krieg ermöglicht haben.
Hierzu sagt Iryna Domnenko, Wissenschaftlerin und zivilgesellschaftliche Aktivistin:
„Seit 2014 hofft die ukrainische Gesellschaft auf Antikriegsproteste und Oppositionelle, die Führung im Kampf gegen Putin übernehmen . Doch jetzt, im Jahr 2024, reicht das nicht mehr, denn. es stoppt weder russische Soldaten Ukrainer*innen zu töten, noch die russische Zivilbevölkerung bei der Unterstützung der Rüstungsindustrie. Es zeigt, dass diese Politiker im Exil keinen Kontakt zu Russlands Gesellschaft haben und keinen Einfluss besitzen, um die Einstellung der Bevölkerung in Russland zu verändern. Ihre Zielgruppe liegt außerhalb Russlands, was keinen Einfluss auf den Rückzug der russischen Truppen oder die Gerechtigkeit für ukrainische Opfer hat.“
Erschwerend kommt hinzu, dass die Demonstration keine klare Botschaft hinsichtlich grundlegender Themen wie der Unterstützung der Ukraine oder der kritischen Aufarbeitung der russischen Gesellschaft enthält. In den letzten Wochen hat Julija Nawalnaja zwar mehrfach den Krieg verurteilt, ihn jedoch als „putins Krieg“ bezeichnet und Waffenlieferungen an die Ukraine kritisch gesehen.
Ilja Jaschin und Wladimir Kara-Mursa haben in jüngsten Interviews die Auswirkungen der Sanktionen auf die russische Bevölkerung betont und argumentiert, dass diese Maßnahmen vor allem die ärmeren Schichten treffen, ohne die gewünschte politische Wirkung zu erzielen.
“All diese Reden und Statements tragen in keiner Weise dazu bei, der Ukraine zu helfen, den Krieg zu gewinnen. Im Gegenteil: Diese Haltung untergräbt die notwendige Aufarbeitung der russischen Rolle und verstärkt das Narrativ, dass allein Putin verantwortlich sei, während die Gesellschaft und Opposition von jeglicher Mitverantwortung freigesprochen werden. Das verhindert langfristig die Möglichkeit eines echten Wandels und einer Annäherung an demokratische Werte.” – fügt Vorsitzende von Vitsche Iryna Shulikina hinzu.
Auch die Ignoranz gegenüber der Verwendung russischer Staatssymbolik bei der Demonstration – wie etwa dem Einsatz der russischen Trikolore – zeigt ein mangelndes Verständnis für den politischen Kontext sowie für den Dialog mit der deutschen Gesellschaft und der ukrainischen Community in Europa.
Die Osteuropa-Historikerin Franziska Davies, bringt dies in ihrem Kommentar prägnant auf den Punkt:
“Die Positionierung prominenter russischer Oppositioneller zum Krieg gegen die Ukraine ist sehr problematisch. Kara-Murza, Nawalnaja und Jaschin stärken alle das Narrativ, dass allein Putin für den Krieg gegen die Ukraine verantwortlich ist und entheben die russische Gesellschaft jeder Verantwortung. Dabei ist es selbstverständlich nicht nur Putin, der täglich in der Ukraine Kriegsverbrechen begeht, sondern die „normalen Russen“ die viele russische Oppositionelle als Opfer sehen und nicht als (Mit-)Täter. Die Solidarität von Jaschin, Kara-Murza und Nawalnaja gilt in erster Linie einem als unschuldig imaginierten Russland und nicht der angegriffenen Ukraine. Das sieht man auch daran, dass sie zwar den Abzug russischer Truppen fordern (wobei der Adressat ihrer Forderung unklar bleibt), aber nicht zu mehr Waffenlieferungen an die Ukraine aufrufen oder zu Spenden für die ukrainische Armee. Dabei kann nur eine Stärkung der ukrainischen Armee zu einem dauerhaften und gerechten Frieden in der Ukraine führen.“
Eine Veranstaltung zur Selbstvergewisserung
Nikolai Klimeniouk, Experte für osteuropäische Politik, fasst zusammen:
„Diese Demonstration erweckt den Eindruck, dass sie primär darauf abzielt, die eigene Anhängerschaft zu konsolidieren und den Organisatoren eine Bühne zu verschaffen. Es fehlt an klaren Forderungen, konstruktiven Lösungen oder einer echten Solidarität mit der Ukraine. Die mangelnde Bereitschaft, konkrete Maßnahmen zu ergreifen oder auch nur zu benennen, wie etwa Spendenaufrufe oder Mobilisierung gegen die russische Aggression, zeigt, dass der Fokus dieser Veranstaltung nicht auf dem Beenden des Krieges liegt. Stattdessen geht es um eine politisch unverantwortliche Selbstvermarktung. Die Kritik am Krieg ist nicht dasselbe wie ein aktiver Beitrag zu Russlands Niederlage.”
Unser Appell
Vitsche betont, dass ohne die Übernahme der kollektiven Verantwortung für die Kriege russlands, die Auseinandersetzung mit dem imperialen Denken und ohne konkrete Maßnahmen kein wirklicher Wandel möglich ist. Die aktuelle Selbstpromotion im Ausland durch diejenigen, die behaupten, die russische Opposition zu vertreten, weckt weiterhin unser Misstrauen in ihre Fähigkeit, Veränderungen zu bewirken. Die einzige wahre Kraft, die in der Lage ist, die Situation in russland zu verändern – und somit die einzige echte russische Opposition derzeit – sind die ukrainischen Streitkräfte. Solange wir sie nicht mit allen verfügbaren Mitteln unterstützen, bleibt Frieden unerreichbar.